Sonntag, 16. Januar 2011

Abgrund

Titel: Abgrund
Autor: callisto24
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Sie balancierte am Abgrund, solange sie denken konnte. Den Blick auf die Füße gerichtet, auf die schmale Kante, auf die Dunkelheit, die steil abfiel, Schrecken barg, den sie sich nicht auszumalen wagte. Ein Schritt nach dem anderen, fast panisch vor Angst, bemühte sie sich darum, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Die Gefahr umgab sie von allen Seiten. Sie war so schwach, eine Feder nur. Ihr Halt nicht mehr als Illusion. Selbst wenn sie sorgfältig darauf achtete, einen Fuß immer auf dem Grund zu behalten, die Bindung zur Erde zu bewahren, so wusste sie doch, dass ein Windstoß reichte, sie ins Schwanken zu bringen. Die Arme ausgestreckt konnte sie nicht anders als weiterzugehen, der Linie zu folgen. Unfähig ihre Augen zu heben, unfähig innezuhalten. Das Leben wartete nicht, es verging und sie ging mit ihm. Eine Seiltänzerin, deren Schicksalsfaden mit jeder Sekunde durchschnitten werden konnte. Und weil sie ihre Endlichkeit sah, wuchs ihre Furcht mit jedem Schritt. Aus den Augenwinkeln ahnte sie die Tiefe, ahnte das Verderben, das dort lauerte. Zurück, nur ein wenig zurück, und sie konnte sich auf festen Grund fallen lassen. Konnte sich der Sicherheit hingeben, die weiche Erde darstellte. Aber ein dunkler Trieb zog sie zum Abgrund, ließ sie nicht los, zwang sie auf ihren Weg, geprägt von der Faszination des Schreckens. Sie blinzelte. Der Wind heulte auf und sie schwankte gefährlich. Ihre Arme ruderten hastig, als sie zum ersten Mal seit unschuldigen Kindertagen aufsah, den silbernen Streifen erblickte, der weit vor ihr, am Horizont wartete. Den sie nie erreichen konnte, der jenseits aller Möglichkeiten schimmerte. Sie weinte. Tränen verschleierten den Blick und doch konnte sie nicht stehenbleiben. Zurücksinken, sich in feuchtem Gras niederlassen, den silbernen Streifen beobachten erschien ihr wie ein plötzlich aus dem Nichts aufgetauchter Traum. Seine Erfüllung so absurd wie ihr eigenes, verzweifeltes Bemühen um Sicherheit. Wie ihre Sehnsucht nach Gurten und Bändern, die sie hielten und führten, wo kein Halt existierte. Zur Illusion zerfiel das Bild, als das Silber ihren Blick dorthin lenkte, wo sie ihr Leben lang den Grund vermutet hatte. Und wo sich nichts befand als ein zweiter Abgrund, zuvor nur erahnte Tiefe, deren Dunkelheit bevölkert wurde von den Geistern der Unkenntnis, die ihr folgten. Sie stolperte und fing sich wie so oft zuvor. Sie balancierte weiter auf dem schmalen Grad, der ihr keine Wahl ließ als voranzuschreiten oder abzustürzen.

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