Samstag, 4. Oktober 2008

Danach

Danach

Nachdem er gefallen war.
Nachdem jede Hoffnung aus seinem Geist gesogen, der letzte Glaube entfernt. Nachdem jeder Traum ausgeträumt, bevor begonnen. Nachdem zu viel Zeit vergangen, zu viel Zeit für eine neue Chance.
Nachdem die Schule ihn ausgespuckt, ins Leben entlassen, ohne ihm den Weg zu weisen.
Nachdem sie ihm beigebracht hatten, Angst zu haben. Seine Unzulänglichkeiten vor die Augen der Welt geführt.
Nachdem er nichts mehr wusste, nichts mehr konnte.
Nachdem ein Flaschenboden zu dem Aufenthaltsort geworden, den er nicht verlassen wollte, nicht verlassen durfte.
Nachdem jeder Versuch zur Katastrophe geführt.
Nach all dem, fing er an zu leben.
Nicht, dass es einfach war. Nicht, dass es funktionierte.
Die Dämonen der Vergangenheit, sie wüteten weiter in ihm. Der Alkohol, der ihn betäubt hatte, ihn versagte er sich. Keine Betäubung der Sinne, keine Flucht aus dem Alltag. Verboten, denn es ging nicht mehr um ihn. Ein Wesen war entstanden, für das er die Verantwortung auf seinen Schultern trug. Eine Verantwortung, für die er nicht bereit war. Und die er doch mehr ersehnte, als alles andere.
Danach, nach der Geburt, war alles anders. Danach war dieses Wesen bei ihm, Tag und Nacht. Es gab kein Entrinnen. Er war nicht mehr alleine, und doch mehr alleine als je zuvor.
Die Angst, sie stieg mit jedem Tag. Besitz bedroht. Gibt es etwas zu verlieren, so quält die Angst vor dem Verlust. Gibt es einen größeren Schrecken, als sich den Schrecken wieder und wieder auszumalen?
Nachdem er nicht mehr trank. Nachdem er ein Kind hatte. Nachdem er erwachsen geworden war. Nachdem er Verantwortung übernommen hatte.
Danach war schwer, was zuvor unerträglich. Danach lebte er nicht mehr nur für sich. Und dennoch lebte er. Und dennoch wollte er, wünschte er, ersehnte er. Bestand auf dem Wenigen, das sein war. Brauchte seine Zeit. Wollte alleine sein. Wollte für sich sein.
Erschöpfung forderte Ruhe.
Kindergeschrei forderte Antwort. Forderungen wollten erfüllt. Wünsche gehört.
Vorher gab es nicht viel, das er wollte. Nicht viel, das er brauchte.
Den langsamen Tod. Alkohol, der ihm den Weg ebnen sollte. Gift, das ihn langsam zerstörte, ihm die Zeit ließ, diese Zerstörung zu verfolgen. Sie mit Abstand zu betrachten und gutzuheißen.
Die Schmerzen, sie gehörten dazu. Die Ängste, sie mussten sein. Ein Leben zu beenden darf nicht leicht sein.
Und doch war davor alles einfacher. Und doch wusste er davor, was er wollte, wer er war. Auch wenn er es nicht ahnte. Eines war sicher. Er wollte sich zerstören, hatte ein Ziel.
Doch danach war alles anders. Danach gab es dieses Ziel nicht mehr. Durfte es dieses Ziel nicht mehr geben. Ein Mensch war geboren, der Sorgfalt bedurfte. Ein Mensch, der ihn brauchte. Jemanden, der am Leben war. Jemanden, der nüchtern war. Jemanden, der alles tat, was in seiner Macht stand, so wenig das auch sein mochte.
Danach wuchs die Qual. Danach wuchs die Angst. Danach wusste er, was er am Leben hatte. Danach wusste er, was ein Leben wert war. Danach wusste er, was ein Leben bedeutete. Danach fürchtete er sich vor dem Tod. Danach fürchtete er sich vor dem Tod des einzigen Menschen, des kleinen Menschleins, das wertvoller war, als alles andere.
Und dass er nicht aufgeben konnte, nicht aufgeben durfte, war schwerer zu ertragen, als alles andere. Dass er nicht aufgeben durfte, brachte ihn näher an den Punkt, aufzugeben, als jede Verzweiflung zuvor es getan hatte.
Nichts schmerzt so sehr, wie täglich beim Werden zuzusehen. Täglich an das Vergehen erinnert zu werden, das unweigerlich die Folge ist.
Liebe ist die Qual. Liebe ist der Schmerz. Ihn zu ertragen kostet alles. Ihn aufzugeben verlangt alles.
Beschützen, was einem nicht gehört. Umsorgen, was nur geliehen. Die Fragilität des Augenblicks erkennen. Nichts Schlimmeres existiert auf dieser Welt. Nichts Verheerenderes erfüllt das Sein.
Und doch begann alles danach. Und doch war er niemand zuvor. Wurde er jemand danach.

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